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06. März 2025

Rettung unserer Bücher II

Wie man Bücher wieder richtig auspackt

Wäre das Leben ein Film, hätte am Ende des letzten Blogs dramatische Musik in Moll einsetzen müssen. Dazu eine gefilmte Totale von unseren erschrockenen Gesichtern. Aber dann der Wechsel der Stimmung in Dur: Auftritt der Superheldin oder des Superhelden mit dem Namen „Book-Saver“. Und mit ungeahnten Superkräften wird praktisch auf einen Schlag wieder alles gut!

Nun ist das Leben aber kein Film und wir standen stumm vor einer Wand mit mehr oder weniger schwer geschädigten Büchern, die wir selber in weißes Seidenpapier verpackt hatten. Was tun? 
Heute erfahrt Ihr, was bei Schimmelbefall zu tun ist, wenn gerade keine Superhelden zur Verfügung stehen. Wir haben unterschieden in Sofortmaßnahmen und die Planung einer nachhaltigen Rettung. Das ist vielleicht nicht so spektakulär wie im Film, findet dann aber tatsächlich statt!

Sofortmaßnahmen

Als erste Maßnahme nach dem Verpacken mussten wir unsere Inkunabeln für die Benutzung und überhaupt auch den Zutritt zum Inkunabelraum sperren. Die Bücher sind ja verpackt und so ohnehin nicht benutzbar, es darf außerdem niemand durch umherfliegende Schimmelsporen gesundheitlich gefährdet werden. Schon bei der Reinigungs- und Verpackungsaktion haben wir außerdem mit einer Schadenskartierung begonnen. Das ist nichts anderes als eine tabellarische Auflistung der Bände mit Verzeichnis der festgestellten Schäden. Unterschieden werden dabei exogene und endogene Schäden. Endogene Schäden hatten wir kaum zu verzeichnen. Das sind Schäden, die aus dem verwendeten Material selbst entstehen, beispielsweise, wenn säurehaltiges Papier anfängt zu zerfallen. Oder, wie in unserem Fall, wenn eisenhaltige Tinte, mit der in die Bücher geschrieben wurde, oxidiert und zum gefürchteten Tintenfraß führt. Exogene Schäden wiederum sind jene, die einem Buch von außen zugefügt wurden. Dazu zählen neben mechanischen Schäden Verschmutzung, Wurmfraß, Wasserschäden, Stockflecken und Schimmel. Hier hatten wir leider viel zu schreiben.

Als zweite Maßnahme haben wir die Klimaüberwachung im Inkunabelraum verbessert. Zwar konnten wir anhand der sichtbaren alten Wasserschäden in den Büchern mutmaßen, was da eigentlich schief gelaufen war. Aber wir müssen auch präventiv dafür sorgen, dass durch das Raumklima keine weiteren Schäden auftreten. Das alte analoge Hygrometer, das in einem der Regale lag, hatte seine besten Tage allerdings schon hinter sich. Deshalb haben wir in einen digitalen Datenlogger investiert. Das ist ein Messgerät für Profis, mit dem sich die Entwicklung von Temperatur und Luftfeuchtigkeit in einem Raum über einen längeren Zeitraum überwachen und auf dem Computer auslesen lässt. Das Gute im Schlechten: Nach einer Weile konnten wir ausschließen, dass das Raumklima einen Anteil an den Schäden hatte, aber die Luftfeuchtigkeit ließe sich dennoch optimieren.

In dem Raum stand ja noch ein alter Luftentfeuchter, der aber, wie wir feststellen mussten, nicht richtig funktioniert. Der hat zwar beeindruckend gebrummt, aber nichts entfeuchtet! Also haben wir auch den gegen ein neues Gerät getauscht.


Und wo wir gerade schon mal am Überprüfen waren, haben wir präventiv auch gleich IPM-Fallen aufgestellt. „IP-was?“ Dieses Kürzel steht für Integrated Pest Management und bedeutet letztlich, dass wir durch Pheromonfallen überwachen, ob wir ein Problem mit Schädlingen haben. Ihr erinnert euch bestimmt noch an die vier Feinde des Buches aus dem letzten Beitrag! Solche Fallen sind relativ preiswert im Internet-Fachhandel zu erstehen. Dann weiß man relativ schnell, woran man ist. 


Planung einer nachhaltigen Rettung

Das alles löste uns allerdings nicht die beiden Grundprobleme: Wie bekommen wir es hin, dass unsere Bücher nicht noch weiter kaputtgehen? Wie kann man sie wieder benutzbar machen?

Wir haben uns Hilfe geholt! Durch Vermittlung durch Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising bekamen wir schnell Kontakt zu einem auf Altbestand spezialisierten Restaurator. Der hat eine Begehung durchgeführt, bei der wir genau wissen wollten: Was können Sie uns über die Art und die Schwere der Schäden sagen? Wie bekommen wir die Bücher wieder benutzbar? Haben Sie Tipps, wie wir die Lagerung unserer Bücher noch verbessern können? Und nicht zuletzt: Was kostet das alles? Dafür haben wir zwei Angebote bekommen. Bei seinen Lösungsvorschlägen wurde deutlich: Auch hier hängt ganz viel davon ab, was man eigentlich will. Man hat gewissermaßen die Wahl zwischen der Luxuslimousine und dem Mittelklassewagen. Geld kostet es aber in jedem Fall!

Nun gibt es glücklicherweise eine eigene Koordinierungsstelle des Bundes für den Erhalt schriftlichen Kulturgutes. Das ist die so genannte KEK! Wer dazu mehr wissen will, kann alles im Internet finden: https://www.kek-spk.de/  Dort werden verschiedene Förderlinien angeboten, um historische Buchbestände zu erhalten oder zu restaurieren. Wir haben etwas Zeit investiert und sorgfältig geprüft, um zu schauen, was für uns in unserem Fall das Beste sein könnte. Wir haben uns für einen Antrag für die „Förderung von Modellprojekten zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in Deutschland“ entschieden. Für ein Modellprojekt also! So ein Antrag kann jährlich immer bis Ende Januar gestellt werden. Aktuell wird unserer dort gerade geprüft.

Gleichzeitig haben wir uns zum Ziel gesetzt, den Inkunabelraum im Juni umzuräumen. Denn: Wenn wir Erfolg mit unserem Antrag haben, dann werden die geschädigten Bücher ja für eine Weile aus dem Raum zum Restaurator gebracht. Das eröffnet Möglichkeiten, dort die Regale neu und besser zu stellen, um eine nachhaltig verbesserte Unterbringung zu gewährleisten. Damit das aber wie am Schnürchen laufen kann, laufen aktuell noch andere Vorarbeiten. Zum Beispiel wird gerade überprüft, welche Bücher in dem Raum stehen, die vielleicht gar nicht mehr dort stehen müssen.

Aber natürlich steht und fällt alles damit, dass der Antrag bei der KEK genehmigt wird. Ein echter Cliffhanger! Ein bisschen wie im Film ist es also doch. Wir sind gespannt!

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07. Februar 2025

Rettung unserer Bücher I

Von den vier natürlichen Feinden des Buches

Unser Buch aus dem letzten Blogbeitrag kann stolz auf eine „Lebensgeschichte“ von 520 Jahren verweisen.

Aber stellt Euch mal vor, wie Ihr selber ausseht, wenn Ihr 520 Jahre alt seid! Sicherlich nicht mehr so frisch wie am ersten Tag. Denn Bücher, so wurde schon unser William von Baskerville belehrt, sind „gebrechliche Wesen, sie leiden unter dem Zahn der Zeit, sie fürchten die Nagetiere, die Unbilden der Witterung, die plumpen Hände ungeübter Benutzer.“  (Umberto Eco, Der Name der Rose. München, dtv, S. 29). Da sind sie: die vier natürlichen Feinde des Buches!


All das macht das Thema „Bestandserhaltung“ zu einem zentralen Thema von Bibliotheksarbeit. Wer mag, kann dazu einen sehr abstrakten Wikipedia-Beitrag lesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Bestandserhaltung

 

Oder: Ihr lest in diesem Blogbeitrag heute, wie es uns damit ergangen ist, als wir dieses Thema ganz oben auf unsere Tagesordnung gesetzt haben.

 

Unser erstes Jahr in der Bibliothek ab dem Juni 2023 war damit ausgefüllt, einen Überblick auf den Zustand des Gesamtbetriebes zu bekommen. Dabei haben wir uns auch viel externen Rat geholt: Bayerische Staatsbibliothek, Diözesanbibliothek München-Freising, Diözesanbibliothek Köln und Unibibliothek Eichstätt.

Ein ganz wichtiges Thema, das sich schnell in den Vordergrund gedrängt hat: Wie wollen wir die Bestandserhaltung anpacken?

 

Das war schon auch eine Neuerung! Weil bei uns die Bücher in eigens dafür gebauten Räumlichkeiten stehen, dachte man: Die stehen hier gut: Da passiert nichts!

Dennoch bekam das Thema einen festen Platz auf der Tagesordnung unserer wöchentlichen Dienstgespräche. Wir haben dabei unterschieden in kurzfristige und langfristige Maßnahmen. Eine weitere Unterscheidung war die Trennung in Schadensprävention und Umgang mit schon vorliegenden Schäden. Ist ja auch logisch: Es ist besser, Schäden im Vorfeld zu vermeiden, als sie dann im Nachgang reparieren zu müssen.

 


 


 


Faszinierenderweise sind die vier Hauptfeinde des Buches, über die William von Baskerville belehrt wird, brandaktuell. Mehrere konkrete Dinge sind wir sehr schnell angegangen:

 „Der Zahn der Zeit!“ Das hat häufig mit Sonneneinstrahlung zu tun. Grelles Licht ist Gift für altes Papier. Also haben wir die Fenster des Raums, in dem unsere Inkunabeln stehen, so verdunkelt, dass der wertvolle Altbestand vor UV-Licht geschützt ist.

„Die plumpen Hände ungeübter Benutzer!“ Die kultivieren wir jetzt durch professionelle Hilfsmittel. Für eine fachgerechte Benutzung alter Bücher besitzen wir jetzt Schaumstoffkeile und Bleischnüre.

„Die Nagetiere!“ Dafür haben wir uns eine Tiefkühltruhe für alte Bücher angeschafft. Dazu später mehr!

Und schließlich noch: „Die Unbilden der Witterung“. Ein sehr heimtückisches Thema.

Zum Umgang damit haben wir eine Großreinigungswoche für Bücher und Bibliothek terminiert. Besonders anschauen wollten wir uns dabei die sehr alten Bücher, zu denen unser Sammelband aus Marienweiher gehört.

Dafür haben wir Hilfe bekommen: Tatsächlich reinigt man alte Bücher auch mit Spezialwerkzeug. Dafür gibt es eigene Staubsauger, Bürsten, Schwämmchen und, sofern nötig, eigenes Verpackungspapier. Außerdem sollte man sich selber durch Spezialkleidung schützen. Hier hat uns die Diözesanbibliothek München-Freising einen Spezialstaubsauger zur Verfügung gestellt – vielen Dank! Alles andere bestellten wir im spezialisierten Online-Handel. 


Reinigen ist deshalb so wichtig, weil vor allem Schimmel besonders gut in verschmutzten Büchern gedeiht. Außerdem verhindert man zusätzlich das Aufkommen von Schädlingen. Das ist übrigens auch der Trick mit der Kühltruhe! Jede Bibliothek, die mit alten Büchern umgeht, hat so eine Tiefkühlgelegenheit. Denn: Ab minus 20 Grad gefriert Eiweiß. Das hält kein Bücherwurm aus! Auch bei akuten Wasserschäden hat Gefriertrocknung schon so manches Buch gerettet. 

 

Sollte ein Buch aber von Schimmel befallen sein, wird es in spezielles Seidenpapier eingeschlagen und so quasi verpackt. Das verhindert nicht nur eine Ausbreitung des Schadens, sondern verhindert eine Kontamination benachbarter Bestände und der Atemluft mit Schimmelsporen. 



Dann kam also die Reinigungswoche! Was sich im Vorfeld schon abgezeichnet hat, wurde leider zur niederschmetternden Gewissheit:

Unsere Inkunabeln müssen mindesten einmal massiv die „Unbilden der Witterung“, das heißt ganz konkret einen großen Wasserschaden miterlebt haben. Möglicherweise war das teilweise schon während des Zweiten Weltkriegs, als ein Teil des Münchener Bestands in Bad Tölz ausgelagert war. Wasserschäden in Verbindung mit Schmutz: idealer Nährboden für Schimmel. Und Schimmel lebt und wächst! Er ist eine echte biologische Zeitbombe. Für das Buch selber, aber eben auch für die Nutzer. Denn Schimmel ist immer potenziell gesundheitsgefährdend, weshalb betroffene Bücher als erste Maßnahme komplett für die Benutzung gesperrt werden müssen.

Das Gemeine: Bei uns war das offenbar schon lange her. So ist in aller Stille über die Jahre echter und wirklich bedrohlicher Schaden an unseren Büchern entstanden! 

 

Es hatte wirklich etwas Tragisches: Je länger wir gereinigt haben, umso länger sind unsere Gesichter geworden. Ein Buch nach dem anderen musste in Seidenpapier eingeschlagen werden – darunter auch unser Band aus Marienweiher. Jetzt sieht der Inkunabelraum aus wie ein Feldlazarett für Bücher: Ganze Wandflächen sind weiß von Seidenpapier!

 

Wird es gelingen, den Band aus Marienweiher und seine Schicksalsgenossen zu retten? 


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17. Januar 2025

 Ein Buch erzählt seine Geschichte 

  „Warum interessiert ihr Euch eigentlich für alte Bücher?“ Oder: „Weswegen betreibt ihr so viel Aufwand für diese alten Schinken? Das liest doch eh keiner mehr!” So könnte man uns fragen – und so werden wir auch gefragt. In diesem Blog-Beitrag erzählen wir euch eine Geschichte, um darauf zu antworten. Und natürlich: Am besten geht das mit der Geschichte eines unserer alten Bücher. Es steht hier in unserem so genannten Inkunabelraum und trägt die Signatur 8° Inc. 36. Im ersten Augenblick macht es keinen besonderen Eindruck. Allerdings lässt sich am stark verschmutzten Ledereinband erkennen, dass es in den letzten 520 Jahren durch viele Hände gegangen ist. 

Nicht selten reagieren Menschen, die ein altes Buch gezeigt bekommen, sehr vorhersehbar. Zuerst kommt der begeisterte Ausruf: „Toll! Ist das sehr alt?“ Es wird dann vielleicht noch ein wenig darin herumgeblättert. Vielleicht sind ja sogar noch Bilder ´drin? Und das ist es auch schon. Dabei kann so ein Buch deutlich mehr erzählen – sogar ohne, dass man es lesen muss!! 
Denn es hat mit der Zeit tatsächlich ein Eigenleben entwickelt, eine eigene Biographie.

Unser Buch ist zum Beispiel ein Sammelband und enthält drei Werke: 

  •  eine sog. Postinkunabel aus dem Jahr 1502, einen Albertus Magnus zugeschriebenen mariologischen Traktat „Summa de laudibus Mariae“, gedruckt 1502 in Köln (für Profis: VD16 A 1356 ]

 

  • eine Inkunabel, den Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen „Liber Floretus“, ein moralisch-theologisches Lehrgedicht, gedruckt 1494 in Köln (international verzeichnet unter ISTC ib00394000. )


  • eine sehr verbreitete Messauslegung aus der Feder von Wilhelm von Gouda, einem Franziskaner des 15. Jhs., gedruckt 1500 in Köln. „Sehr verbreitet“ heißt in diesem Zusammenhang: Es gibt alleine 26 Druckausgaben vor 1500, von denen diese Ausgabe weltweit noch dreißig Mal nachgewiesen ist: ISTC ig00631000. )


Das heißt im Umkehrschluss: Da hat sich jemand die Mühe gemacht, drei sehr unterschiedliche Drucke unter einen Buchdeckel zu bringen – zu einer Zeit, wo der Buchdruck, die „schwarze Kunst“, noch ein ganz junges Handwerk war.  Das provoziert doch geradezu die Fragen: Wer war das? Wo ist das geschehen? Und nicht zuletzt: warum?

Solche Sammelbände gibt es häufig aus dieser Zeit. Meistens sind darin Werke aus unterschiedlichen Druckereien oft kunterbunt zusammengebunden. Zufällig stammen alle drei Werke in diesem Band aber aus derselben Druckerei, nämlich Heinrich Quentell in Köln. Heinrich Quentell stirbt 1501. Das erste Werk, die „Summa de laudibus Mariae“, wurde aber 1503 gedruckt, als die Söhne Quentells die Werkstatt unter gleichem Namen übernommen hatten.
Der Ort Köln ist aber möglicherweise kein Zufall! Denn, wo hat Albertus Magnus gewirkt und wo ist er begraben? Köln! Und auch Wilhelm von Gouda hatte einen Bezug zu Köln: Als seine Messauslegung gedruckt wurde, lebte er nämlich noch und war Franziskaner der Kölnischen Franziskanerprovinz.
Wie und wo haben aber diese drei einzelnen Drucke zusammengefunden? Zahlreiche Buchbinderwerkstätten des Spätmittelalters haben ihre Ledereinbände mit eigenen Blindstempeln verziert, anhand derer sich heute mit etwas Recherchearbeit die Werkstätten identifizieren lassen. Dieser Einband führt uns nach Heidelberg (Werkstatt „Blumenstock Raute I“ Heidelberg [EBDB w000110]). Dort wurden also die drei Werke zusammengebunden und der Einband mit den beiden noch erhaltenen Schließen versehen. Die frühen Drucke hatten also schon ihre erste Reise gemacht: Von Köln nach Heidelberg (rund 240 km).

Warum ausgerechnet dorthin? Heidelberg, seit 1386 Studentenstadt! Dort gab es natürlich einen Markt für – in diesem Fall theologische – Fachliteratur. Tatsächlich wurde unser Buch von einem Theologie-Studenten gekauft. Das wissen wir! Denn er nennt sich in einem Eintrag auf dem hinteren Spiegel (so nennt man den inneren Teil der beiden Buchdeckel) selbst: 1503°. Emptus per me fratrem Vrbanum Frais Heydelberga. Ein Frater Urbanus Frais hat also dieses Buch in der jetzt uns vorliegenden Form 1503 in Heidelberg gekauft. Und tatsächlich: In den Heidelberger Matrikeln aus diesem Jahr ist er entsprechend verzeichnet mit dem Zusatz: de Lanckheym Bambergensis diocesis. Er stammte also aus (Kloster) Langheim, heute Stadtteil von Lichtenfels in Oberfranken. 

Wir wissen nicht, wie es euch geht, ob ihr euch Notizen in eure Büchern macht oder dies eher als Unsitte betrachtet. Für die heutige Forschung sind Benutzerspuren, also Anmerkungen, Notizen und Kommentare mitunter von hohem Aussagewert. Urbanus Frais hat zwar den Inhalt seines Buches nur spärlich kommentiert. Aber: Auf einer der hinteren Seiten hat er uns neben Buchstaben des Alphabets, die wohl Federproben sind, die Anfangszeilen des Vaterunser auf Deutsch hinterlassen. Außerdem hat er im vorderen Spiegel eine Liste seiner Heidelberger Mitstudenten aus dem Jahr 1503 angefertigt und teilt uns mit, dass seine Determinatio, also die Abschlussprüfung, am Samstag nach Maria Himmelfahrt 1504 (= 17. August 1504) stattfand. 
Spannend wäre natürlich zu wissen: War unser Frater Urbanus Frais Zisterzienser aus der heimischen Abtei Langheim? Dafür würde nicht nur der Herkunftsvermerk „de Langkheim“ und der Schreibdialekt des deutschen Vaterunsers sprechen, der eher ins südlichere Deutschland verweist. Auch der Umstand, dass das Buch nach erneuter Wanderschaft (weitere 260 km) und viele Jahre später plötzlich in Franken auftaucht, könnte ein Beleg dafür sein. 
 
Denn aus einem weiteren Besitzeintrag geht hervor, dass es sich 1671 im Besitz des Pfarrers Johann Jakob Gerhard befand. Im Jahr zuvor hatte er im katholischen Stadtsteinach (Lkr. Kulmbach, Franken] eine völlig desolate Pfarrei übernommen. Im Dreißigjährigen Krieg war die Kirche verwüstet und geplündert worden, die Gemeinde war notleidend. Noch dazu befand sich Stadtsteinach in direkter Nachbarschaft zu den protestantischen Markgrafen von Kulmbach, woraus sich auch noch gegen Ende des 17. Jhs. – vor allem im Zuge der Markgrafenkriege – immer wieder gewaltsame Konflikte ergaben. Johann Jakob Gerhard starb 1697 und ist in der Pfarrkirche in Kronach bestattet. Sein Testament wird heute im Staatsarchiv Bamberg aufbewahrt. Wie spannend wäre es doch, einen Blick hineinzuwerfen, um zu sehen, was mit seinen Büchern geschah 
Unser Buch wechselte nämlich erneut den Ort, blieb aber zunächst in Franken! Es kam zeitnah – möglicherweise nach dem Tod von Jakob Gerhard –  ins direkt benachbarte Franziskanerkloster Marienweiher. Das lag nur rund 10 km Luftlinie von Stadtsteinach entfernt und war erst im Jahr 1646 gegründet worden. Es gehörte allerdings in dieser Zeit organisatorisch zur Straßburger Ordensprovinz und war zunächst nur eine kleine Seelsorgestation. Erst im Jahr 1699 wurde das Kloster zum Konvent erhoben. 
Diese Besitzerwechsel von Frater Urbanus zu Johann Jakob Gerhard ins Franziskanerkloster Marienweiher laden zu ganz vielen Fragen ein: Immerhin! Wir befinden uns im 16. und 17. Jahrhundert! Reformation und katholische Reform, Dreißigjähriger Krieg! 

Doch die Geschichte geht noch weiter: Unser Buch ist offenbar lange in Marienweiher in der Bibliothek stehen geblieben. Und das war nicht selbstverständlich! Denn das Kloster wurde im Jahr 1802 säkularisiert. Das Ordensleben sollte in dieser Zeit komplett abgeschafft werden. Aber wohin mit den bisherigen Ordensleuten? Man gründete so genannte „Aussterbeklöster“. Da steckte man Ordensleute hinein und zahlte ihnen bei strengem Verbot, Novizen aufzunehmen, eine staatliche Pension. Nicht selten beließ man bei dieser Gelegenheit die Bibliotheken im Haus: Die älter werdenden Ordensleute sollten ja schließlich etwas zu lesen haben. Im Freistaat Bayern bringt das bis heute die heikle Frage mit sich, wem denn dann die Bücher eigentlich heute gehören. 
Mit König Ludwig I. von Bayern erlebte das Ordensleben aber rund zwanzig Jahre später im Jahr 1827 einen Neuanfang. Er ließ auch die Franziskaner wieder zu. Das führte dazu, dass das Kloster im oberfränkischen Marienweiher erst jetzt „richtig“ bayerisch, sprich Teil der Bayerischen Franziskanerprovinz wurde. Mit den noch dort verbliebenen alt gewordenen Franziskanern der Straßburger Provinz wurden auch die alten Bücher gewissermaßen „bajuvarisiert“. Und dazu zählte auch unser Exemplar hier. Ihm war dann in Marienweiher noch über 150 Jahre Standortgeschichte vergönnt. Wer es in dieser Zeit in die Hand genommen hat? Wissen wir nicht! Es wird aber möglicherweise zu Beginn nur noch eines von wenigen Büchern im Haus gewesen sein. Doch wird ihm nicht entgangen sein, dass es ab der der Mitte des 19. Jahrhunderts auf einmal Konkurrenz von ganz vielen anderen Büchern in benachbarten Regalen bekam. Was war passiert? Die Massenproduktion von Druckerzeugnissen hatte eingesetzt: die Einführung der maschinellen Druckerpressen und ab 1844 der Holzschliff in der Papierproduktion. 
Jetzt war es nur noch ein altes Buch unter vielen neuen Büchern mit viel aktuelleren Themen. Wer interessierte sich jetzt noch für die Theologie des 14. Jahrhunderts oder Wilhelm von Gouda? Unser Buch ist damals möglicherweise noch ob seines ehrwürdigen Alters bewundert worden, aber: Ob es überhaupt noch gelesen wurde? Die Einführung des Taschenbuches in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das sicherlich nochmals verstärkt. Irgendwann war unser Buch auf jeden Fall einfach nur noch im Weg! 
Möglicherweise war es dann im Jahr 1983, als es seine bisher letzte Reise nach München antrat (einmal mehr 260 km)? Denn in diesem Jahr hat die Bayerische Franziskanerprovinz das Kloster in Marienweiher der Schlesischen Ordensprovinz überlassen. Bei dieser Gelegenheit wurden die alten Bücher in die Provinzbibliothek nach München gebracht. Auch unser Buch. 
Dieses Buch oder seine Einzelteile haben also in 520 Jahren bis heute eine Reise von 770 km  hinter sich gebracht: von Köln nach Heidelberg, von dort vielleicht nach (Kloster-)Langheim, schließlich nach Stadtsteinach, weiter nach Marienweiher und von dort zuletzt nach München. Diese Reise bringt ganz viele Fragen mit sich. Wir haben nur einige angerissen. Das Verrückte: Mit so einer Geschichte kann so ein altes Buch auch auf Fragen antworten, die uns heute noch gar nicht beschäftigen. Die Fragen sind schier endlos und betreffen nicht alleine die eigene Geschichte der Franziskanerprovinz. 
Ohne, dass wir uns überhaupt mit dem Inhalt des Buches beschäftigt haben, hat es ganz viel zu sagen! Hier schlummert also Potenzial. 
Vielleicht beginnt ihr zu ahnen, warum wir von der Bibliothek sagen: Wir wollen dieses Potenzial unseres Altbestandes nach außen viel bekannter machen und zum Leben erwecken – beispielsweise, indem wir auf die universitäre Forschung und Lehre zugehen und die Bestände hier unkompliziert zugänglich machen. 

 

Aber leider: Die Gegenwart unseres Buches bietet noch Stoff für Drama. Denn seine Geschichte geht nämlich weiter!

 

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4. Dezember 2024

Natürlich, eine alte Bibliothek! 

 

Anno Domini 1327. Ein wissbegieriger Franziskaner und sein Adlatus, eine düstere Benediktinerabtei irgendwo an den Hängen des Apennins und deren größter Schatz, die ebenso geheimnisvolle wie hermetisch abgeschlossene monumentale Bibliothek: Das kommt Euch sicherlich bekannt vor. Kein großes Rätsel: Es geht um die Geschichte von „Der Name der Rose”, dem faszinierenden Roman von Umberto Eco und seiner populären Verfilmung mit Sean Connery in der Rolle des William von Baskerville. Nur: Für uns ist diese Geschichte keine Vergangenheit.  Sie findet, wenngleich mit veränderten Vorzeichen, auch heute statt! 

 

Okay, zugegeben: Bei uns passieren keine mysteriösen Mordfälle. 

 

Aber wie im Buch und im Film geht es auch bei uns um Franziskaner, vergessene und verborgene Bücher und deren Wiederentdeckung. 

 

Die Öffnung einer „originalen” Franziskanerbibliothek ist sogar Programm. Wir wollen Öffentlichkeit für ihre Schätze. Mit dem zweiten Buch der Poetik des Aristoteles über die Komödie können wir zwar nicht dienen, sorry. Aber mit dem „echten“ William Ockham und Ubertin von Casale oder zumindest deren gedruckten Werken. Und alt ist unsere Bibliothek auch. Eines ihrer ältesten Werke stammt noch aus dem „alten“ Münchener Franziskanerkloster, das im Jahr 1284 am Max-Joseph-Platz errichtet und 1802 aufgelöst wurde. Das war übrigens das Kloster, in dem Ockham tatsächlich eine Zeit lang gelebt hat und in dessen Klosterkirche er begraben wurde! 

 

Besagtes Buch und noch viele andere Werke fanden zusammen mit den Franziskanern nur wenige Jahre später eine neue Heimat in St. Anna im Lehel. Es geht also tatsächlich um das geistige Erbe und die Tradition der Franziskaner seit den Tagen des „Namen der Rose”. Nur: Bei uns ist die Geschichte eben nicht erfunden, sondern hat sich tatsächlich ereignet und geht sogar noch weiter! 

 

Wir laden Euch ein, es Wilhelm von Baskerville und Adson von Melk gleichzutun und die Franziskanerbibliothek in München als Heimat unserer Bücher jeden Monat ein Stück besser kennenzulernen. 

 

Und jetzt eine entscheidende Information: Wer sind “wir” überhaupt?

„Wir“ sind der Provinzbibliothekar der deutschen Franziskaner und eine Historikerin beziehungsweise Kodikologin. Seit einem Jahr stehen wir in der Verantwortung für einen ungehobenen Bücherschatz von 20.000 Bänden vom 12. bis ins 19. Jahrhundert. Unsere Ausgangslage ist dabei nicht weniger dramatisch als in „Der Name der Rose”: Denn viele der alten Bücher müssen aktuell sogar noch „gerettet” werden, damit sie wieder zugänglich werden. Der Zahn der Zeit hat gnadenlos genagt! 

Hinzu kommt, dass wir zugeben müssen: So ganz wissen wir noch nicht einmal, welche Schätze bei uns noch gehoben werden können. 

 

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